Dascal, M. (2006)

Die Dialektik in der kollektiven Konstruktion wissenschaftlichen Wissens

EINE ZUSAMMENFASSUNG

Wissenschaftliches Wissen entsteht in kollektiver Arbeit: Wissenschaftliche Forschung erfolgt in Arbeitsgruppen und fußt auf den Ergebnissen anderer Forschungsgruppen. Wissenschaft ist zudem zunehmend spezialisiert, komplex und daher oft interdisziplinär, und sie wird von wissenschaftlichen Gemeinschaften überprüft und in der Öffentlichkeit kommuniziert. Diese kollektive Arbeit schließt jedoch Meinungsverschiedenheiten und kritische Auseinandersetzungen nicht aus. Im Gegenteil: Ohne Kritik gibt es keinen wissenschaftlichen Fortschritt. Insofern entsteht wissenschaftliches Wissen in einer Dialektik von Kooperation und Auseinandersetzung. 

Auseinandersetzungen lassen sich in die drei Haupttypen Diskussion, Disput und Kontroverse mit jeweils unterschiedlichen Zielen, Gegenstandsbereichen, Verfahren, Methoden unterscheiden. Dabei spielt die Kontroverse bei der Entstehung neuen wissenschaftlichen Wissens eine zentrale Rolle. 

So kann es bei Kontroversen zu thematischen Verschiebungen kommen: Nach anfänglicher Auseinandersetzung mit einer klar umgrenzten Frage führen sie zu einer Vertiefung und Ausweitung auf andere Fragen und Probleme. Dabei können sowohl die Befunde als auch die Annahmen und das Vorgehen (die Methode) des Gegners in Frage gestellt werden. Interpretationen werden immer hinterfragt, und es kommt bei einer Kontroverse meist zu Re-Interpretationen. Durch die thematische Verschiebung bzw. Erweiterbarkeit der anfänglichen Frage gibt es meist keine Lösung, sondern ein offenes Ende, das jedoch zu einem erkennbaren epistemischen Gewinn führt. Kontroversen haben eine zwar flexible, aber geordnete Struktur von Argumenten und Gegenargumenten. Das Ziel ist die gegenseitige Überzeugung. Mit diesen Merkmalen unterscheiden sich Kontroversen von Diskussionen und Disputen und gelten als Impulsgeberinnen für Innovationen. 

In den letzten Abschnitten seines Aufsatzes geht der Autor auf die in seiner Sicht verfehlte Dichotomie von „radikalem Konstruktivismus“ und „naivem Realismus“ ein. Zwischen diesen beiden Polen bestehe ein Kontinuum von Möglichkeiten. Nur eine Zwischenposition könne das Phänomen der Auseinandersetzung und die Bedeutung der Kontroverse für die soziale Wissenskonstruktion hinreichend erklären.