Aufmerksamkeit, Provokation und Schock
Theoretischer Hintergrund: Situationales Interesse fördern
Bei einer Ausstellungskonzeption zu einem kontroversen Thema werden, wie auch bei Ausstellungsplanungen zu anderen Themen, unterschiedliche Wege erwogen, um die Aufmerksamkeit von Besuchenden zu wecken und aufrechtzuhalten. Es gibt einige Studien, die sich mit Aufmerksamkeit und der damit einhergehenden selbstbestimmten Motivation sowie dem Interesse der Besuchenden beschäftigen. Der Begriff des situationalen Interesses beschreibt eine „inhaltsbezogene Motivationsqualität, die in einer aktuellen Lernsituation entsteht und auf den situativen Merkmalen der Lernumgebung, der individuell wahrgenommenen Interessantheit der Inhalte und dem Erleben während der Beschäftigung mit den Inhalten beruht“ (Geyer & Lewalter 2011, S. 92). Situationales Interesse beinhaltet zwei zu unterscheidende Komponenten, einerseits die Catch-Komponente, bei der es sich um das erste Auftreten des situationalen Interesses handelt, welches durch ein positives emotionales Erleben sowie Neugierde und eine fokussierte Aufmerksamkeit charakterisiert werden kann, und andererseits die Hold-Komponente, die sich auf ein anhaltendes Interesse in der konkreten (Besuchs-)Situation bezieht und durch eine individuelle Wertzuschreibung für den Gegenstand und den Wunsch gekennzeichnet ist, mehr über ihn zu erfahren (Geyer & Lewalter 2011). Aus der psychologischen Forschung wissen wir, dass für die Entwicklung dieser Motivationsqualitäten das Erleben von Kompetenz, Autonomie und sozialer Eingebundenheit sowie wahrgenommene Diskrepanzerlebnisse und Überraschungseffekte förderlich sind (vgl. Geyer & Lewalter, 2011).
Hinweise für eine aufmerksamkeits- und motivationsförderliche Ausstellungsgestaltung
Auf der Basis dieser Theorien geben Geyer und Lewalter (2011) Hinweise für eine aufmerksamkeits- und motivationsförderliche Ausstellungsgestaltung. Beispielsweise sollten interaktive Objekte so gestaltet sein, dass sie durch ein ansprechendes Design und eine gute Positionierung die Aufmerksamkeit und Neugier der Besucher wecken und so die Catch-Komponente des situationalen Interesses angesprochen wird. Um dieses Interesse aufrechtzuhalten – also die Hold-Komponente zu bedienen – kann beispielsweise an die Lebenswelt der Besuchenden angeknüpft werden. Klare Instruktionen zur Bedienung des Ausstellungsobjekts sind Voraussetzung, um das Kompetenzerleben der Besuchenden zu fördern und keine Frustration aufkommen zu lassen. Bei Führungen können zum Beispiel Wahlmöglichkeiten das Autonomieerleben der Besuchenden fördern oder überraschende Informationen zu Beginn die Aufmerksamkeit im Sinne der Catch-Komponente wecken (vgl. Geyer & Lewalter, 2011).
Was gilt es bei der Präsentation von schockierenden Inhalten zu berücksichtigen?
Bei der Thematisierung von Kontroversen können konfrontierende und schockierende Inhalte dargestellt werden. Aus der Forschung zu Aufklärungskampagnen ist bekannt, dass schockierende oder als bedrohlich empfundene Darstellungen (bspw. von Umweltschäden) große Wirkungen erzielen können, weil sie einen hohen Aufmerksamkeitswert besitzen und negative oder empathische Gefühle (bspw. Scham) auslösen können, die wiederum in stärkerem Maße positive Handlungsabsichten hervorrufen können (bspw. sich umweltgerechter zu verhalten). Voraussetzung ist, dass die Absichten der Kampagnen als positiv wahrgenommen werden (Parry, Jones, Stern, & Robinson, 2013). Darüber hinaus hat sich auch gezeigt, dass moderat schockierende Darstellungen für diese Zwecke ausreichend sind (Borawska, Oleksy, & Maison, 2020). Durch den Verzicht auf sehr starke Schockwirkungen wird zudem vermieden, dass zwar die Aufmerksamkeit der Besuchenden erlangt wird, dies aber zu heftigen Emotionen und Schock und damit zu einer Abneigung und zum Abkehren vom ausgestellten Inhalt führen kann (Pedretti & Navas Ianinni, 2020). In einigen Fällen wurden geplante Ausstellungen bereits abgesagt oder von verschiedenen Seiten kritisiert, wenn sie als zu kontrovers aufgefasst wurden und man davon ausgehen musste, dass sie von den Besuchenden zu viel verlangten (vgl. Meyer, 2009). Die Balance zu finden zwischen dem bewussten Provozieren bzw. dem Erzeugen von Emotionen und Fördern von Reflexion einerseits und dem Schockieren bzw. dem Auslösen von heftigen negativen Emotionen andererseits, die nicht förderlich sind für die Besuchs- oder Lern-Erfahrung, ist bei kontroversen Ausstellungen eine große Herausforderung.
Im Praxisbeispiel Landwirtschaft und Ernährung können Sie nachlesen, wie Kolleginnen aus dem Deutschen Museum mit dem Dilemma Schock umgegangen sind.
Literatur zum Thema Aufmerksamkeit, Provokation und Schock
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Borawska, A., Oleksy, T., & Maison, D. (2020). Do negative emotions in social advertising really work? Confrontation of classic vs. EEG reaction toward advertising that promotes safe driving. PLoS one, 15(5), e0233036.
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Geyer, C. & Lewalter, D. (2011). Motivationstheorien als museumsdidaktisches Instrumentarium. In B. Bücker & T. Schmidt (Hrsg.) Lernort Literaturmuseum. Beiträge zur kulturellen Bildung (S. 88-100). Göttingen: Wallstein Verlag. Zur Zusammenfassung.
[Erwartungen an Museen, Museumsbesuchende, Museumspädagogische Ressource(n), Ausstellungsgestaltung]
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Meyer, M. (2009). From ‚cold‘ science to ‚hot‘ research: the texture of controversy. CSI working paper series 016, 1–13. Zur Zusammenfassung.
[Ausstellungsgestaltung, Ausstellungsbeispiele, Eigenschaften von Kontroversen, Partizipation, socio-scientific issues (SSI), unabgeschlossene Wissenschaft, Wandel des Museums]
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Parry, S., Jones, R., Stern, P., & Robinson, M. (2013). ‘Shockvertising’: An exploratory investigation into attitudinal variations and emotional reactions to shock advertising. Journal of Consumer Behaviour, 12(2), 112-121.
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Pedretti, E., & Navas Iannini, A. M. (2020). Controversy in Science Museums: Re-imagining Exhibition Spaces and Practice. London, England: Routledge. Zur Zusammenfassung.
[Ausstellungsgestaltung, Ausstellungsbeispiele, Museumsbesuchende, Eigenschaften von Kontroversen, Erwartungen an Museen, Socio-Scientific Issues (SSI), Wandel des Museums, Wissenschaftskommunikation]
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